Tu BiShvat - Fest der Bäume
9. September 2021

Shira Wachsmann (*1984 Tel Aviv, Israel, lebt und arbeitet in London und Berlin)

Shira Wachsmann, A Dream, Filmstill, 2021

Wissenschaftler:innen fanden heraus, dass Gespräche mit Pflanzen ebenso wie Musik positive Auswirkungen auf ihr Wachstum und ihr Wohlbefinden haben. Sie reagieren auf die produzierten Schallwellen und wandeln das beim Reden ausgestoßene CO₂ bei der Photosynthese in Zucker um. Pflanzen können sich nicht fortbewegen wie Menschen und brauchen deshalb besonders feine Sinne, um zu erfassen, was um sie herum passiert. Der sensibelste Teil ihrer Wahrnehmung befindet sich in der Wurzel. »Sie nehmen ganz viel wahr, sie reagieren auch darauf. Sie lernen sogar aus dem, was sie wahrnehmen« erklärt der Bonner Botaniker Frantisek Baluska. Zahlreiche Biolog:innen sind sich sicher, dass bestimmten Pflanzen sogar eine Intelligenz zugeschrieben werden kann.

Die 1984 in Tel Aviv geborene israelische Medienkünstlerin Shira Wachsmann stellt in ihren Überlegungen zur Sensitivität von Pflanzen über diese Forschungsergebnisse hinaus die Frage, ob auch historische Ereignisse Reaktionen oder gar Verletzungen bei Pflanzen hervorrufen können. Bleiben Geräusche, Worte oder Menschen im Gedächtnis der Natur und haben Pflanzen Gefühle? Ausgehend von der nachgewiesenen Interaktion zwischen Mensch und Natur durch Schallwellen, schafft die Künstlerin folgenden Modellversuch: Sie setzt einen Tzabar (Kaktus) in ein Tonstudio und richtet ein Mikrophon darauf.

Shira Wachsmann, A Dream, Filmstill, 2021

Wachsmann beginnt das Gespräch mit der Pflanze, indem sie zunächst die Frage nach einer gemeinsamen Sprache für den Dialog stellt. Während die botanische Herkunft des Kaktus, auch Opuntia Ficus-Indicas genannt, ursprünglich in Italien liegt, und die gebürtige Israelin in Berlin und London lebt und arbeitet, entscheidet sie sich für Englisch als Lingua franca des internationalen kulturellen Austauschs. Wachsmanns Arbeit beschäftigt sich mit Krieg, Trauma und der Transformation der Materialität des Gedächtnisses in verschiedenen Formen. Es ist eine Arbeit über den Versuch, einen unmöglichen Dialog zu schaffen und zu versuchen mit dem Trauma im selben Raum zu sein. Die Sound Wellen, die durch ihre Worte und das Echo des Kaktus entstehen, überträgt sie auf einem Display in ein Diagramm, wodurch eine virtuelle Sprachlandschaft sichtbar wird.

Shira Wachsmann, A Dream, Filmstill, 2021

Der Tzabar, auch Sabra oder Sabre, hebräisch צבר, wörtlich »Kaktusfeige« genannt, hat sowohl für Palästinenser:innen als auch für Israel:innen eine identitätsstiftende Funktion. Während sie für die einen in der Vergangenheit der Sichtbarkeit einer territorialen Grenze diente indem die Kakteen um Gebiete gepflanzt wurden, steht sie für die Israeli seit der Einwanderung vor allem osteuropäischer Jüdinnen und Juden in die Region Palästina in den 1930er Jahre für den in Israel geborenen Juden. Für beide Seiten symbolisiert die Pflanze das »Verwurzeltsein« im Land.“

Wachsmann erzählt dem Kaktus von einem Traum, in dem sie ihre ältere Schwester verletzt, sie anschließend zum Arzt schickt und von dem die vermeintlich Verletzte beinahe unversehrt zurückkommt. Die einzig sichtbare Veränderung ist eine Narbe auf ihrem Mund. Erschrocken über den gewaltsamen Traum, ruft sie ihre Mutter an, die der Tochter in einem beruhigenden Ton erklärt, dass die ältere Schwester symbolisch für den Tzabar steht und der Traum ihre Sorgen und Ängste über den Umgang der Menschen mit der Natur versinnbildlicht.

Shira Wachsmann findet mit ihren Worten, die sie an den Kaktus richtet, einen sensiblen künstlerischen Weg, um sich mit den historischen und gegenwärtigen Konflikten in einem Land auseinanderzusetzen, in dem sie aufgewachsen ist.

Shira Wachsmann, A Dream, Filmstill, 2021

Wachsmanns Eltern zogen Ende der 1980er Jahre aus Deutschland in den Norden Israels an die Grenze zum Libanon, wo die Künstlerin zwei Jahre nach Ausbruch des Libanonkrieges zur Welt kam. Die israelische Besiedlung von Teilen des Westjordanlands nach dem Sechstagekrieg im Jahr 1967 schürte die Konflikte unter beiden Völkern und sorgte für andauernde Spannungen. Shira Wachsmanns Kindheit und ihre eigenen Erfahrungen sind der Ausgangspunkt ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der komplexen gesellschaftlichen Situation in der heutigen Zeit.

»In Israel aufzuwachsen«, so die Künstlerin, »ist eine sehr existenzielle Erfahrung. Es ist eine ständige Beschäftigung mit der Vergangenheit, dem Land und den Grenzen.« Der Umzug nach Berlin schärfte ihre Perspektive auf das Land, das sie verließ. In wissenschaftlichen Studien und Recherchen entwickelt Shira Wachsmann ihre eigene Sprache, mit der sie persönliche Erfahrungen in der Vergangenheit, in der Gegenwart und Vorstellungen von Erfahrungen in der Zukunft verknüpft und künstlerisch zum Ausdruck bringt. Im Dialog mit dem Kaktus stellt sie Fragen über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Israels und Palästinas, die in der Gegenwart unlösbar scheinen.